Polarisierend faszinierend

In Sachen Naturwein scheiden sich die Geister. Auch in den (sozialen) Medien wurde und wird das Thema kontrovers diskutiert. Hagen Britz hat sich Gedanken zur Debatte in der deutsch­sprachigen Presse zwischen 2013 und 2017 gemacht. Ein Fazit.

Als wäre es gestern gewesen. So gut die Erinnerung an den allerersten Schluck «Vin nature» vor nunmehr fast 20 Jahren. Ich war damals schlanker, der Weinhandel hatte noch keinen Tribut an die Hüften geheftet. Die ersten Jahre im Berufsalltag des Devisenhändlers lagen hinter mir, die ersten «grossen» Bordeaux waren verdaut und die erste handgefertigte Schweizer Uhr glitzerte elegant am Handgelenk. Natürlich war ich auch damals schon nett und sympathisch – aber das ist ja irrelevant für diesen Text. Wichtig ist – und nur deswegen erwähne ich diesen biographischen Kontext: Ich «stolperte» in die Welt der Naturweine rein zufällig. Vor vielen Jahren. Nicht als «Öko», nicht als «Hipster» – auch nicht als Rudolf-Steiner-Jünger, nein, als normaler Absolvent eines Ökonomiestudiums mit einer seiner saarländischen Herkunft geschuldeten Neigung zu lukullischen wie dionysischen Genüssen. Was waren das damals zwischen 2000 und 2010 auch noch für goldene Zeiten! Die Weine von Spitzenwinzern wie Overnoy, de Moor, Vignes du Maynes, Leroy, Ganevat, Pfifferling – alles noch einfach zu kaufen. Zu bezahlbaren Preisen. Das Hobby wurde 2014 zum Beruf und ich widme mich seitdem dem Vertrieb exklusiver Naturweine. Natürlich bedeutet dies, dass ich befangen bin. Aber es bedeutet eben auch: Ich verfolge die Berichterstattung in deutschsprachigen Medien seit Jahren mit grösstem Interesse und kann so hoffentlich den einen oder anderen spannenden Denkanstoss, die eine oder andere kritische Betrachtung vorschlagen.

Was gibt es zu erwähnen, wenn es um die Auseinandersetzung mit «Vin nature» in den deutschsprachigen Medien geht? Nun, das Thema wird seit Jahren immer mal wieder in den verschiedensten weinaffinen Medien aufgegriffen und bearbeitet. Es geistert durch die einschlägigen Foren, durch die sozialen Medien und wie bei allen mit Genuss und Nachhaltigkeit behafteten Themen gibt es «Lovers», gibt es «Haters», gibt es kurze, oberflächliche Artikel sowie grössere, breiter angelegte Dossiers. So richtig los ging es mit dem vom «Vinum»-Magazin 2013 publizierten grossen Dossier Naturwein. Neutral und auf Objektivität hin angelegt kamen verschiedenste Stimmen zu Wort, wurden Propagandisten wie Ablehner angehört und Dutzende von Weinen degustiert. Dieses umfangreiche Dossier, so zeigt sich heute, blieb wegweisend für die Debatte der kommenden Jahre – auf verschiedenen Ebenen:

Die emotionale Tonlage der Kritiker fand in Manfred Klimeks Überschrift «Eine Plage, eine Pest» einen Auftakt. Es wurde in den darauffolgenden Jahren noch reisserischer. 2015 doppelte der gleiche Autor in der Zeitung «Die Welt» nach, sprach von «Trauben-Taliban», vom Geschmack der Verwesung, von «radikalbiologischen Weinen», die meistens untrinkbar seien. Nicht oft. Nicht regelmässig. Nein – meistens! Im Magazin «Cicero» sprach Autor Rainer Balcerowiak davon, dass eine selbst ernannte Gourmet-Avantgarde den Naturwein für sich entdeckt hätte, der einer Mischung aus Esoterik und Etikettenschwindel gleichkomme und ungeniessbar sei. Worte eines Weinjournalisten nicht aus dem Jahr 1980, nein, aus dem Jahr 2015! Ein Zeitpunkt, zu dem die Weine von Winzern der ersten Generation bereits Dutzende von mit Michelin-Sternen gekrönten Restaurants erobert hatten. Ein Zeitpunkt, zu dem, seien wir ehrlich, die real existierende, internationale Gourmet-Avantgarde bereits intensiv mit Naturweinen arbeitete. Stellen Sie sich einen Moment vor, wie es mir damals mit einem Glas Ganevat, einem Glas de Moor, einem Glas Hermitage von Dard & Ribo in der Hand erging, als ich die Worte «Trauben-Taliban» oder «meistens ungeniessbar» las.

Viel Halbwissen und mangelhafte Recherche

Die vielen starken Worte, die polemische Grundstimmung vieler Artikel verraten natürlich die Emotionen, die Verärgerung der Autoren über fehlerhafte, schlechte Naturweine. Und, ich kann es nicht anders erklären, sie verraten die mit mangelnder Recherche zusammenhängende Überforderung dabei, das Thema objektiv für den Leser aufzuarbeiten. Denn es gibt neben vielen fehlerhaften, schlechten Weinen schliesslich auch positive, beziehungsweise herausragende Beispiele.

Wobei wir beim zweiten grossen Punkt wären, der sich bereits 2013 im «Vinum»-Dossier ankündigte: Mangelnde Recherche, grob lückenhafte Berichterstattung, aka gefährliches Halbwissen. Wie kann es sein, dass man sowohl im «Vinum»-Artikel damals 2013 und dann immer noch in den 2015er Artikeln von Klimek, von Balcerowiak kein Wort über die Winzer der ersten Generation liest? Kein Wort über die teuersten Naturweine der Welt, kein Wort über die rarsten Flaschen, kein Wort über die gesuchtesten Weine der Szene? Wie kann es sein, dass für namhafte Häuser schreibende Weinexperten noch im Jahre 2015 daran scheitern, zu unterscheiden, was Naturweine (Stichwort: Verzicht auf Zusatzstoffe), was Orange Wines (Maischegärung weisser Trauben, egal ob mit oder ohne Verwendung von Zusatzstoffen) sind? Wie kann es sein, dass im «Vinum»-Dossier unter den Dutzenden von degustierten Weinen kein einziger wirklich grosser, rarer, teurer Naturwein war? Und wie kann es sein, dass in deutschsprachigen Artikeln immer wieder auf

Nicolas Joly verwiesen wurde und erst ganz spät auf Jules Chauvet? Die Antwort ist unangenehm, muss aber zwingend lauten: lücken- und somit mangelhafte Recherche, die vor allem die Berichterstattung in den grossen Medien, den grossen Weinmagazinen wie Tageszeitungen prägte.

Gibt es auch positive Beispiele? Natürlich, und für einmal waren es die unentgeltlich schreibenden Blogger, die sich dem Thema am gründlichsten näherten. In seinem 2016 erschienen Artikel «Vin naturel – Eintagsfliege oder here to stay?» bietet Stephan Bauer den Lesern des Weinblogs «Originalverkorkt» den bislang breitesten und am besten recherchierten Artikel über Naturweine im deutschsprachigen Raum. Bauers Artikel bleibt bis zum heutigen Tage wichtig, denn er geht sowohl auf die Historie der Bewegung rund um Chauvet, die «Gang of Four» etc. wie auch auf Spitzenwinzer der ersten Generation ein. Auf diese Art und Weise erlaubt er den interessierten Lesern einen wirklichen Zugang zum Thema. Wer möchte, kann nun nachkaufen, nachdegustieren, sich ein Bild machen von der Welt der Naturweine in voller Breite. Was wünsche ich mir für die kommenden Debatten?

Noch sind viele Fragen offen

Nun, da wir dank Autoren wie Stephan Bauer oder auch Christoph Raffelt über gute Übersichten verfügen und über Historie, über Spitzenweine, über die Tatsache «es gibt gute, sehr gute, brillante und sehr schlechte Naturweine» ausreichend informiert sind, wünsche ich mir eine tiefer gehende Auseinandersetzung. Im nächsten Schritt wünsche ich mir eine Analyse dessen, was uns an Naturweinen so fasziniert und berührt. Warum trinken Naturweinfans irgendwann immer weniger konventionell geschwefelten Wein? Was genau meinen Naturweinfans, die von der Lebendigkeit der Weine schwärmen? Ist die zugefügte Schwefelmenge sensorisch relevant? Geschmacklich? Warum werden viele schwefelfrei abgefüllte Naturweine mit etwas Flaschenreife so viel sauberer, brillanter? Warum erleben wir immer wieder, dass Weingärten erst nach Jahren der Umstellung (auf bio, beziehungsweise auf biodynamischen Rebbau) ein Traubenmaterial bieten, das die Produktion von wirklich sauberen, leckeren Naturweinen erlaubt? Die Grundsteine für eine interessante Auseinandersetzung mit dem Thema sind gelegt. Dank der vielen hervorragenden Spitzenweine unserer Weinszene erfreut sich das Thema nun auch im deutschsprachigen Raum immer grösserer Beliebtheit. Der schwache, durch mangelnde Recherche wenig interessante wie irreführende Auftakt der medialen Aufarbeitung wurde überwunden. Ich freue mich jetzt auf spannende Artikel, interessante Themen, auf eine lebendige Auseinandersetzung mit lebendigen Weinen.

Hagen Britz
Der ehemalige Devisenhändler beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit Wein, insbesondere Naturwein. 2014 eröffnete er die Weinhandlung Maison du vin libre in Hausen am Albis (ZH), die ausschliesslich Naturweine anbietet.

Bilder: iStock, Marion Nitsch

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